Zu Besuch bei der Wilden Šárka

Divoka Sarka - StraßenbahnDivoká Šárka heißt auf Deutsch: wilde Šárka. Šárka ist in Tschechien ein durchaus gängiger Frauenname. Was also hat man sich unter der Wilden Šárka vorzustellen?

Wo die Divoká Šárka zuhause ist, weiß vermutlich jeder, der in Prag oft zwischen Zentrum und Flughafen unterwegs ist. Ein Stück vor dem Verlassen des bebauten Stadtgebietes sind auf der rechten Seite Hügel und ein paar schroffe Felsen zu sehen. Hier enden in einer Wendeschleife die Straßenbahnlinien 8 und 26. Und dahinter thront, wie ein Abschiedsgruß der Zivilisation am Tor zur Wildnis, ein McDonald’s Restaurant.

Divoká Šárka - TreppeGleich hinter dem Restaurant beginnt eine andere Welt. Man hätte es nicht besser arrangieren können: Unscheinbar und überschattet von Bäumen führt eine geschwungene Treppe aus steinernen Stufen den Hang hinab in die Tiefe. Dort, in dem Tal, ist nichts mehr von dem geschäftigen Treiben der Evropská zu merken. Es dominiert der Bach, der Šárecký potok, dem wir nun nach links über eine Brücke folgen.

Den Kern des Naherholungsgebietes bildet eine felsige Schlucht, durch die sich dieser Bach windet. Ein Stück weiter abwärts finden wir ein Freibad, das für sein kaltes Wasser berühmt ist, sowie eine Gaststätte.

Für Prag ist es ein ungeheures Glück, umschlungen von der Stadt und gut erreichbar, aber dennoch nicht völlig erobert und zerbaut, ein Gebiet mit einem solchen landschaftlichen Reiz zu haben. Es ist nicht groß, und gerade an Wochenenden wirkt es unter dem Andrang der Besucher oft eher wie ein weitläufiger Park.

Šárecký potokIch weiß nicht, ob ich diesen Bach mit den zerklüfteten Felsen nun als „wild“ bezeichnet hätte. Die Divoká Šárka bietet nicht das atemberaubende Erlebnis einer alpinen Klamm, und vergeblich sucht man hier Klettersteige und Stege über tosenden Wassern. Einen Besuch ist sie aber ohne Zweifel trotzdem wert. Ich empfinde sie auch nicht als einen Punkt auf der „Prager Abhakliste für Fortgeschrittene“, sondern eben als den romantischen Teil des Prager Hintergartens, in den man immer wieder gerne fährt, um sich den Kopf frei zu machen.

Im Grunde hat man die Wahl zwischen zwei Optionen: Hinauf, auf einen der Hügel, um die Aussicht in die Ferne oder hinab in den Abgrund zu genießen, oder umgekehrt hinab, um den Weg durch die Tiefen zu gehen. Wer sich zwei Stunden Zeit nimmt, schafft auch problemlos die Kombination. Leider gibt es keinen Rundweg, der beides verbände.

Auf den Hügeln würde ich übrigens nur bei Tageslicht und gutem Wetter herumsteigen. An einigen Stellen enden die Felsen sehr abrupt, und an anderen entwickelt sich das Gefälle sehr tückisch allmählich bis zur Vertikalen, so wie wenn man auf einer riesigen Kugel geht. Abgesehen von ein paar Trampelpfaden gibt es hier kaum Wege, ganz zu schweigen von einer Absicherung mit Plattform und Geländer.

Divoka Sarka - StauseeWer am Fuß der Treppe nicht nach links dem Bach zwischen die Felsen folgen will, kann auch nach rechts auf den Stausee, den „Džbán“, auf Deutsch „Krug“, zu gehen, um dann wiederum nach links den Anhang hinauf zu steigen. Hier gelangt man zu der höchsten Erhebung, ebenfalls „Džbán“ genannt.

Legende und Wirklichkeit

Warum eigentlich „Šárka“? Über die Herkunft des Namens sind sich die Quellen uneins: Wurde nun das Mädchen nach dem Ort benannt, oder der Ort nach dem Mädchen? Wir werden es nie erfahren. Interessant ist auf jeden Fall die Verbindung, die zwischen Šárka und dem spanischen „Sierra“ vermutet wird. Das Wort Šárka verweist demnach auf einen felsigen Hügel.

Inspirierend ist sicherlich auch die Legende von der Kämpferin Šárka, die sich hier von einem Felsen gestürzt haben soll. An selbiger Stelle befindet sich nun oben erwähnte Gaststätte, die den Namen „Dívčí skok“ führt, wo also das Mädchen den tragischen Sprung vollführt hat. Es ist eine bemerkenswerte Eigenart der tschechischen Kultur, dass – zumindest der Legende nach – tragische Ereignisse kulinarisch verarbeitet zu werden pflegen. Erinnert sei an die „Utopenci“, die „Ertrunkenen“, die nach einem tragisch verunglückten Müller benannt worden sein sollen, oder an das „Tatarský biftek“, Ergebnis einer militärischen Bedrohung.

Divoka Sarka - ehemalige BesiedlungEin Stück Vergangenheit, das archäologisch gut belegt ist, bildet die ehemalige befestigte Siedlung, die noch vor der Zeit der Prager Burgen datiert wird und die überregionale Bedeutung hatte. Sie befindet sich – vermutlich der Einfachheit halber – zwischen „Džbán“ und „Džbán“, also zwischen dem See und dem Gipfel. Heute ist an der Stelle nicht mehr viel zu sehen. Der vergangenheitsbewusste Wanderer kann sich lediglich auf einer Bank niederlassen und andächtig auf die historisch wertvolle Wiese starren.

 

 

Einband des Tschechien-Buches

Dieses Thema findet auch Erwähnung in meinem Buch „111 Gründe, Tschechien zu lieben“.

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Leseprobe

Christoph Amthor

Erster länger Aufenthalt in Tschechien im Jahr 1997. Seit 2003 wohnhaft zumeist in Prag, mit Abstecher in die Slowakei. Ehemals Journalist und Mitbegründer einer gemeinnützigen Organisation, heute Blogger und Software-Entwickler.

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Von einer atemberaubenden Landschaft, über Bier und Knödel bis hin zu Kafka, dem Golem und einem Geist, der eine wissenschaftliche Karriere gemacht hat. Vom Fliegenden Ferdinand  und Pan Tau bis zur Lässigkeit, mit der dort ein Fabrikschornstein gefällt wird.

 

Über dieses Land, das einfach liebenswert, aber oft auch geheimnisvoll und extrem verrückt ist, gibt es wirklich genug zu erzählen. Und natürlich kann man darüber nur mit einer guten Portion böhmischen Humors schreiben.