Nobels Dynamitfabrik und der alte Friedhof der Psychiatrie

Masarykovo nádraží

Am Masarykovo Nádraží: Mein Zug steht links, verborgen hinter dem Triebwagen.

Wenn ein Prager „Bohnice“ hört, dann denkt er wohl zunächst an die dortige psychiatrische Klinik. Dieser im Nordwesten gelegene Stadtteil hat jedoch weit mehr zu bieten.

Eigentlich hätte ich mit dem Bus auf den Hügel oberhalb von Troja fahren können, aber reizvoller fand ich den Weg über den Fluss. Die Fahrt beginnt am Bahnhof Masarykovo Nádraží. von wo mich ein Nahverkehrszug nach Praha-Sedlec bringt. Von dort geht es zu Fuß hinab zur Straße und ein Stück stromabwärts zum Fähranleger. Bahn und Fähre sind beide im Prager Verkehrsverbund integriert.

Bahnhof Praha-Sedlec

Am Bahnhof Sedlec geht es in Fahrtrichtung weiter, dann nach rechts und ein Stück moldauabwärts.

Ein wenig muss ich mich gedulden, bis die winzige Personenfähre endlich herüber kommt. Die Überfahrt bei herbstlichem Sonnenwetter bietet einen schönen Blick auf die Hänge beiderseits des Wassers.

Auf der Gegenseite (Praha Zámky) gibt es bereits die erste Kuriosität zu bestaunen: Laut den Schildern auf dem Wagen arbeitet der Fährmann nebenbei auch noch als Masseur, Psychologe und Therapeut. Ob sich diese bunte Mischung ganz natürlich aus den Bedürfnissen der Fahrgäste ergeben hat? Fähren haben in der Literatur und Mythologie immer besondere Rollen gespielt, unterwegs zwischen zwei Welten.

Von dem Anlegeplatz, der sich auch per Bus erreichen lässt, gehe ich flussabwärts an der Moldau entlang. Auf der Gegenseite herrscht reger Bahnverkehr. Es handelt sich um die Strecke von Prag nach Ústí (Aussig), Dresden, Berlin und Hamburg – eine wichtige Trasse und momentan ein Nadelöhr, da sie zumeist dem gewundenen Lauf der Moldau und der Elbe folgt und sich mit dem Wasser durch enge Täler zwängt.

Alfred Nobels Vermächtnis

Nach nur kurzem Weg treffe ich auf ein kleines Seitental, in dem ein paar Gebäude stehen, die schon einmal bessere Zeiten gesehen hatten. Hier befand sich einmal eine Dynamitfabrik des berühmten Schweden Alfred Nobel – die einzige im Land. Sie wurde im Mai 1870 unter seiner Anwesenheit feierlich eröffnet und produzierte Sprengstoff für die Österreich-Ungarische Armee und für die zahlreichen Gruben. Leider kam es in der Fabrik immer mal wieder zu schwerwiegenden Explosionen mit vielen Toten und Verletzten.

Die Produktion wurde schließlich eingestellt oder an andere Orte verlegt. Heute dient das Gelände als Lager und ist nicht öffentlich zugänglich.

Hinauf nach Alt-Bohnice

Weg hinauf nach Bohnice

Von der Bushaltestelle „Zámky“ aus führt am Bach entlang dieser Weg hinauf.

Von der ehemaligen Dynamitfabrik gehe ich wieder zurück in Richtung Zámky, um dann vor dem Bach Bohnický potok den blau markierten Weg nach links hinauf zu wählen. Der enge Pfad führt nun leicht bergauf in Richtung Bohnice.

Bohnický potok

Weiter am „Bohnický potok“ entlang, dann nach links einen Weg hinauf zum alten Friedhof.

Oben findet sich dann eine Abzweigung, die nach links führt. Hinter den Bäumen sind bereits Gebäude zu sehen. Gleich dort gelange ich zu der Umfassungsmauer eines alten Friedhofs.

Der geheimnisvollste Friedhof Prags

Dieser Ort böte sicher eine geeignete Kulisse für Horrorfilme, und auch seine Vergangenheit trägt einiges zu dieser Atmosphäre bei. Der Friedhof wurde im Jahr 1909 in Betrieb genommen. Begraben wurden hier sowohl Insassen als auch Bedienstete des „Instituts für Geisteskranke“1, wie der damalige Titel wörtlich übersetzt heißt. Angelegt wurde er mit einem gewissen Sicherheitsabstand zu diesem Institut, und zwar hinaus geschoben auf eine Art Felshalbinsel, nämlich auf drei Seiten umgeben vom Abgrund. Fast 5000 Gräber sollen sich hier befinden – eine beträchtliche Anzahl.

alter Friedhof Bohnice

Der Friedhof des „Instituts für Geisteskranke“, wie es damals hieß

Während des 1. Weltkriegs wurden hier zudem 3000 italienische Flüchtlinge aus Trient (Trento) beerdigt, die im Lazarett an Typhus gestorben waren.

Gerüchten zufolge soll es in der Friedhofskapelle zu exorzistischen Ritualen gekommen sein, und das im zwanzigsten Jahrhundert. Von der Kapelle ist heute nur noch eine Ruine übrig. Wenn es also irgendwo in Prag nachts spuken sollte, dann hier.

Neben diesen unverbürgten Legenden gibt es andere Ungereimtheiten: In den 60er Jahren wurde der Friedhofsbetrieb von dem neuen Betreiber – der Stadt Prag –  eingestellt. Trotzdem finden sich aber Gräber mit Daten aus den 70ern, die offenbar illegal angelegt worden sind.2 Es gibt sogar Gerüchte, dass hier Gavrilo Princip, der Attentäter von Sarajevo begraben liegen soll.

Gleich gegenüber befindet sich ein ehemaliger Tierfriedhof, der von 1998 bis 2006 in Betrieb war und heute als Park dient.

Von den Friedhöfen führt die Straße direkt in das alte Bohnice hinein. Der Ort mit Schloss und Kirche ist malerisch um ein Tal herum angelegt. Im Hintergrund thront eine Plattenbausiedlung, die unter anderem mit der längsten „Platte“ der Republik aufwarten kann.

Am Statek Vranych, einem alten Gehöft, dessen Giebel sofort in die Augen fallen, befindet sich eine Bushaltestelle.

Das alte Bohnice

In Bohnice ist vom städtischen Prag oft nicht viel zu spüren.

 

Zeige 2 Fußnoten

  1. Ústavu pro choromyslné
  2. Leider war das Gelände nicht zugänglich, um einen Blick hinein zu werfen.

Christoph Amthor

Erster länger Aufenthalt in Tschechien im Jahr 1997. Seit 2003 wohnhaft zumeist in Prag, mit Abstecher in die Slowakei. Ehemals Journalist und Mitbegründer einer gemeinnützigen Organisation, heute Blogger und Software-Entwickler.

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Von einer atemberaubenden Landschaft, über Bier und Knödel bis hin zu Kafka, dem Golem und einem Geist, der eine wissenschaftliche Karriere gemacht hat. Vom Fliegenden Ferdinand  und Pan Tau bis zur Lässigkeit, mit der dort ein Fabrikschornstein gefällt wird.

 

Über dieses Land, das einfach liebenswert, aber oft auch geheimnisvoll und extrem verrückt ist, gibt es wirklich genug zu erzählen. Und natürlich kann man darüber nur mit einer guten Portion böhmischen Humors schreiben.