Karlsbad jenseits der Geheimtipps
Knapp sieben Uhr morgens. Der Blick aus meinem Fenster verheißt Ungutes: Es regnet.
Karlsbad steht auf jeder Top-Liste Tschechiens und ist berühmt für zweierlei: Als Kurort und für sein Filmfestival. Ganzjährig ist es ein Heilbad, die Stadt des Warmwassers, früher der Kurschatten, mittlerweile gibt es einen medizinischen Tourismus, der sogar bis hin zur plastischen Chirurgie reicht.
Karlsbad oder Karlovy Vary schreibt sich heute vor allem Карловы Вары. Aus irgendeinem Grund haben sich russische Millionäre in diese Stadt verliebt. Ihre Gattinnen langweilen sich hier auf höchstem Niveau, und zwei Drittel des Kur- und Gastgewerbes sollen sich im Besitz privater Investoren aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion befinden.1 Karlsbad steht für Luxus und ist zugleich so westeuropäisch, wie man mit einer slawischen Sprache überhaupt kommen kann.
Ein russischer Bekannter hatte mir einmal gestanden, dass für ihn Tschechien nicht so richtig slawisch sei, sondern kulturell eher wie Deutschland.
Diese Ansicht dürfte hiesige Patrioten zur Weißglut bringen, bildet das Nichtdeutschsein doch ein beständiges Motiv in der tschechischen Identitätsfindung.
Aber gerade Differenzen sind wohl immer auch eine Frage der Perspektive.
Eine Stunde später bin ich unterwegs im „Rychlík“, was man wohlwollend mit „Schnellzug“ übersetzen kann. Die Palette der Interpretationen reicht dabei von einer Art Intercity bis hin zum Lumpensammler, der an jedem Städtchen haltmacht, das einen Bahnsteig vorweisen kann. Ein Hinweisschild am Sitzplatz informiert mich darüber, dass der Abfalleimer „auf der Trittfläche“ zu finden sei. Hoffentlich nicht außen an der Wagentür.
Unterwegs sehe ich mich auf den Web-Seiten des Filmfestivals um: Der Blick auf die Gästeliste macht mir schnell klar, dass ich fachfremd bin. Der Name Hřebejk etwa ist mir geläufig, ich hätte ihn aber nicht erkannt, wenn er jetzt neben mir säße. Wieder andere Gäste hätte ich zwar erkannt, aber nicht lange ausgehalten.
Die Liste der Persönlichkeiten präsentiert neben Schauspielern und Regisseuren auch Verkaufsagenten, Kritiker und Journalisten, bis hin zum Komponisten. Manche der Porträts wirken wie Aufnahmen für Galamagazine, andere wiederum wie missglückte Handyschnappschüsse.
Kurz vor Ústí, teda „Aussig“: Für ein paar Sekunden kommt die Sonne heraus. Das felsige Mittelgebirge ringsum macht sich eigentlich sehr gut im Dunst der finsteren Wolken, die als weiße Schlieren bis in die Täler herab reichen. Fünfundzwanzig Minuten später in Teplice ist plötzlich strahlend blauer Himmel, so weit das Auge reicht. Karlsbad kann kommen.
Ankunft in Карловы Вары
In Karlsbad („Is this Karlovy Vary?“) werden wir auf einer Baustelle ausgesetzt. Genauso gut hätte man uns in Schüttgutwaggons entlang der Strecke auskippen können. Der gesamte Bahnhof wird erneuert, und das Timing hätte nicht ungünstiger sein können. Vielleicht rächt sich hier die Tschechische Bahn für einen Film des letzten Festivaljahrgangs, in dem sie schlecht weggekommen ist.
In dieser Riesensandkiste liegt alle Macht bei einem beleibten Bauarbeiter, der zunächst einmal in Ruhe den Bagger über den Fußweg hinüber und wieder zurück rollen lässt, bevor er den Reisenden die Sperre öffnet.
Das Bahnhofsgebäude ist ebenfalls neu, und es sieht aus wie eine der letzten Prager Metrostationen: gläsern, rund und hell. Mir gefällt es. Es ist ein bewusster Schritt in unsere Zeit, ohne jedoch mit dem traditionellen Stadtbild zu kollidieren.
Karlsbad steht dieser Tage also ganz im Zeichen des „Karlovy Vary International Film Festivals“. Die übliche Geschäftigkeit des Heilbades hat sich zu einem Zustand nervösen Gewimmels gesteigert. Wo immer sich ein roter Teppich findet, bilden sich Menschentrauben. Wo immer eine Menschentraube die Hälse reckt, kommen weitere Neugierige gelaufen. Mit Geräten behängte Fotografen wetteifern in den Pausen darin, die Enten auf dem Wasser zu fotografieren.
Auf allen Grasflächen stehen Popup-Cafés mit zerknautschten Sitzkissen oder Strandstühlen. Am originellsten ist noch der mobile Espressostand, dessen Kaffeemühle das Mädchen kraftvoll per Pedale antreibt, während sie dabei munter plappert.
- Smetanovy sady
- Tepl (Teplá).
- „In the Track of Agent 007“
- Schaulustige. Haben eigentlich alle Aufpasser den gleichen Friseur?
- Hierher kommt man nicht per Fahrrad.
- Grandhotel Pupp
- „Game of Thrones“ – einmal im Thron sitzen!
- Mühlbrunnkolonnade, stark verengt
- „Schön blöd“
- Sprachtalente
- Inserat für ein Kinderfräulein
- National(anti)held mit Hand in der Hose
Bald lassen sich drei Unterschiede zu sonst festhalten:
Die Reisegruppen, die für einen Schluck warmen Wassers kommen, sind auch diesmal hier zu finden. Aber sie zwängen sich nun durch die engen Gassen zwischen Kabeln und Gittern hindurch und suchen Wege um abgesperrte Bereiche herum, wo Drehorte für Sponsorenspots errichtet wurden oder wo Limousinen auf VIPs warten.
- Die Kurgäste und Langzeitbewohner, die sonst im Winter mit Pelz und im Sommer mit schicken Sonnenbrillen die Promenaden entlang wandeln, verschwinden nun in den Massen der Kinobesucher. Vermutlich sitzen sie längst mit hohlem Blick und einem geschüttelten Wodka-Martini in den Hotelbars und warten darauf, dass draußen endlich wieder Ruhe einkehrt.
- Das Fotografieren in der Innenstadt wird zur Herausforderung, will man nicht groß in jedem Bild eines der riesigen Sponsorenbanner oder Filmplakate haben, die sogar mittig über dem Flussbett der Teplá (Tepl) aufgehängt wurden.
Ansonsten ist alles beim Alten. Ein kleiner Junge, vom Aussehen her vielleicht ein Roma, führt seinem Freund einen Salto nach dem anderen vor. Aus dem sedimentverkrusteten Bett der Teplá steigen auch heute die heißen Dämpfe. Und die berühmtesten der „Karlsbader Oblaten“ sind eigentlich aus Marienbad.
Letztendlich ist die Stadt auch trotz Luxus und Besuchermassen immer noch sehr freundlich. Es ist gut zu sehen, dass das Festival doch vor allem den Bewohnern der umliegenden Städte gehört, die für eine Tagestour hierher kommen. Es könnte auch für deutsche Besucher von Interesse sein, aber deutsche Medien scheinen ihre Schwerpunkte woanders zu setzen.
- Ehemalige Markthalle
- Durchschlüpfen sinnlos.
- Parkkolonnade
- Marktkolonnade
- Parkhotel Richmond
- Pavillon vor dem Richmond
- Beethoven
- Smetana
- Posthof
- Sadová-Straße
- Erstaunlich viel steht zum Verkauf.
Aus Karlsbad gibt es diesmal keine Geheimtipps zu vermelden. Was sich aber dennoch unternehmen lässt:
Zum gesicherten Standard gehört der Weg entlang der Tepl (Teplá) hinauf, die Quellen und Fontänen entlang. Auf dieser Strecke findet sich die Mehrzahl sehenswerter Kolonnaden.
- Hinter dem Grandhotel Pupp2 führt eine Standseilbahn zum Dianaturm hinauf.3 Der Weg lässt sich auch zu Fuß gehen, allerdings erfordert die Steigung doch eine gewisse Fitness und Ausdauer, und an einigen Stellen ist der Weg nur rutschend bzw. mit festem Griff an Bäumen und Wurzeln zu überbrücken.
Für Leute in Eile bietet es sich an, hinauf zu fahren und hinab zu gehen. In rund 20-30 Minuten ist man wieder unten. Bei dem Turm befindet sich ein Restaurant mit Freisitzen. - Wer ein normales Restaurant oder Café sucht, der sollte in dem normalen Teil der Stadt suchen. Von dem Kurteil kommend biegt man vor der Mündung der Tepl in die Eger schräg nach links. In den Straßen östlich und westlich des Jan Becher Museums findet sich ähnliche Gastronomie wie auch in anderen tschechischen Bezirksstädten.
- Dianaturm
- Blick vom Dianaturm hinab
- Nach oben führen wahlweise Stufen oder ein Fahrstuhl.
Rückfahrt auf Umwegen
Am nächsten Morgen, nach einem langen Fußweg von der Herberge und einem wohltuenden Kaffee mit Frühstück im „Freedom Café“ bin ich zurück am Bahnhof. Kurz vor Betreten der Baustelle werde ich von einem Bekannten überholt, der in Pardubice wohnt, den ich aber aus Königgrätz kenne. Die von Einstein prognostizierte Raum-Zeit-Verzerrung hat eine böhmische Variante, der zufolge man überall mit jedem rechnen sollte.
Während der Bekannte nach Eger4 weiter fährt, steige ich nach zehn Minuten wieder aus dem Zug und stehe auf dem langen, kahlen Bahnsteig von Nové Sédlo. Auf dem Rückweg von Karlsbad nach Prag habe ich mir einen Abstecher nach Loket vorgenommen.
Ein Bahnarbeiter erklärt lachend den verwirrten Reisenden, dass der hier wartende Schienenbus durchaus der richtige sei. Sie könnten wahlweise jetzt schon einsteigen, oder sie könnten auch warten, bis er wieder aus Chodov zurück sei, um dann erst nach Loket weiter zu fahren. Wie man’s auch macht, ist’s richtig. Reisen in Böhmen.
Am Abend bin ich wieder in Prag. Etwas geschlaucht zwar, aber voller neuer Eindrücke.
Dieses Thema findet auch Erwähnung in meinem Buch „111 Gründe, Tschechien zu lieben“.
Erhältlich ist es im Buchhandel.