Ein Ausflug nach Braník
Für mich beginnt der Prager Süden mit der Durchquerung des Tunnels unter dem Vyšehrad. Eben hatten noch geschäftige Kreuzungen und kubistische Gebäude das Bild bestimmt, doch nun, nach der kurzen Fahrt durch das Felstor, eröffnet sich der Blick auf den Kai von Podolí (Podol). Das morgendliche Licht gleißt auf dem Wasser, während die Bahn in einem sanften Bogen den Bootshafen umfährt. Gerade bei schönem Wetter erweckt Podolí den Eindruck einer Meeresbucht.
Zur Linken erscheint nun ein großes neoklassizistisches Gebäude, das strahlend weiß aus seiner Umgebung hervorsticht. Es handelt sich um das Wasserwerk von Podolí, ein imposanter Gebäudekomplex, der in den Jahren 1927 bis 29 errichtet wurde, um aus dem Fluss sauberes Trinkwasser zu gewinnen.
Die Straßenbahnlinien 3 und 17 fahren aus dem Prager Norden bis hinunter nach Braník. Ich sitze in der Nummer 3, die vor dem dortigen Bahnhof endet. Die Endhaltestelle wirkt mit ihren Bahnsteigen und aufgestelzten Dächern viel zu groß für die paar verlorenen Passagiere, die hier aussteigen. Braník hatte eindeutig einmal bessere Zeiten erlebt.
Der Bahnhof befindet sich in einer Art Enklave, vom Rest des Viertels abgeschnitten durch die Prager Südumgehung. Was diesen südlichen Zipfel ausmacht und dem Namen des gesamten Stadtteils zu nationaler Berühmtheit verholfen hat, ist die Brauerei, wo von 1900 – zwei Jahre nach ihrer Gründung – bis 2007 Bier gebraut wurde. Dann wurde die Produktion von dem Eigentümer Staropramen nach Smíchov verlegt, wo eine höhere Kapazität möglich war. Die Brauerei ist gewissermaßen an ihrem ihrem Erfolg zugrunde gegangen. Ein tragisches Ende.
Das Gebäude wirkt ein wenig wie eine Mischung aus Fabrik und Schloss. Während ich vom Bahnübergang komme und dem Anhang entgegen gehe, verstärkt sich noch der mächtige Eindruck. Ein großes Wappen prangt auf der Fassade, und darunter steht: „Společenský pivovar pražských sládků“, also in etwa: „Gesellschaftliches Brauhaus der Prager Brauer“. Darüber thront ein massiver Schornstein mit der für Mälzen typischen Darre. Der hintere Teil des Gebäudes, vermutlich ehemalige Lagerräume, befinden sich in einem auffallend schlechten Zustand. Die Zukunft der alten Brauerei ist ungewiss.
- Einfahrtstor
- Vermutlich ein Verwaltungsgebäude
- Seitenflügel
- Rückwärtiges Gebäude
- Detail
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Mit der Straßenbahn fahre ich zwei Stationen zurück, zur Haltestelle Přístaviště. Hier befinde ich mich nun nördlich der Südumgehung. Zu Fuß gelange ich in wenigen Minuten zur Straße Branická, die mich direkt in den alten Ortskern bringt.
Glücklicherweise lebt der Ort nicht nur vom Vermächtnis der Vergangenheit: Hier residiert das Duncan Centre, ein Tanzkonservatorium. Neben einer Weinstube, Biergärten und anderen gastronomischen Angeboten gibt es hier das hübsche Café Periferie, wo ich mir einen Kaffee gönne. Draußen um die Freisitze tummelt sich eine lustige Gesellschaft von biergewohnten Gästen, während drinnen neben mir zwei ältere Herren eindringlich miteinander diskutieren und ein Stück weiter eine Mutter sitzt, während ihr Kleinkind in der Kinderecke spielt.
Weiter die Straße hinunter, hinter dem Café, folgt eine Art kleinstädtische Geschäftsstraße, und dann ist der Ortskern eigentlich auch schon zuende. Zwei wichtige Sehenswürdigkeiten möchte ich aber nicht auslassen, bevor ich mich dem „Branicker Felsen“ zuwende.
Das attraktive Herzstück dieses Ortsteils könnte der Dominikanerhof („Dominikánský dvůr“) sein, ein Baudenkmal aus dem 17. Jahrhundert. Von ursprünglich vier Flügeln sind nur noch drei erhalten, und auch die nur in einem beklagenswerten Zustand. Das ehemalige Kloster entstand im Zuge der Rekatholisierung nach der Schlacht am Weißen Berg. Nahezu unvermeidbar für den Besucher oder Fotografen steht direkt dahinter ein Plattenbau, der massiv den Hintergrund füllt.
Auf dem Areal des früheren Klosters wird seit diesem Frühjahr ein Biergarten mit Mikrobrauerei betrieben, der hoffentlich dazu beitragen wird, dass es genug Mittel und Motivation für die Erhaltung der Bausubstanz gibt. Das neue Bierzelt steht in einem starken Kontrast zu dem Gebäude, das in Teilen wie eine Ruine wirkt.
Nicht weit von dem Dominikanerhof befindet sich das Theater Branické divadlo, wo einmal das Theater Jára Cimrman zu Hause war. Hier „lebte“ Jára Cimrman, der genialste aller Tschechen, zumindest in den Vorstellungen seiner Erfinder, bis er nach Žižkov übersiedelt wurde.
„Woran schreiben Sie gerade, Herr Doktor Tschechow?“
„Ich schreibe die Zwei Schwestern.“
„Sind das nicht zu wenig, Anton Pawlowitsch?“
Über Cimrman könnte man eine Menge schreiben. Seine Schöpfer, Ladislav Smoljak, Zdeněk Svěrák und Jiří Šebánek berichten in den Aufführungen von neuen Erkenntnissen über das Leben und wirken Cimrmans. Hier eine Kostprobe, in der es um Cimrmans Theorie des Externismus geht:
Erst unlängst habe ich in Einsteins Korrespondenz einen Brief entdeckt, in dem Cimrman seinen Freund mit dem endgültigen Entwurf des Externismus bekannt macht. Er erklärt ihm, dass es sich dieser Philosophie zufolge mit der Existenz der Dinge genau andersherum verhält, als es der gängigen Meinung entspricht: Ein Ding ist dort, wo wir vermuten, dass es nicht ist, und es ist nicht dort, wo wir vermuten, dass es ist. Also vereinfacht gesprochen: Wenn ich zum Beispiel in der Hand dieses Stück Kreide halte, dann erfüllt diese Kreide kontinuierlich den gesamten Raum seiner Umgebung, und einzig an dem Ort, den Sie sehen, ist diese Kreide nicht zu finden. Das, was ich in der Hand halte, ist eigentlich nur eine Art leere Blase im kontinuierlichen Kreidemassiv. Einstein fand diese Beschreibung der Welt bemerkenswert. – Im Original bezeichnete er Cimrmans Meinung sogar als „funny“.
Nach einem kurzen Abstecher in den langgestreckten Park am anderen Ende, wo sich deutlich das Rauschen der nahen Schnellstraße vernehmen lässt, wende ich mich nun den Branicker Felsen (Branické skály) zu. Dort hinauf gelangt man über diverse Wege, zum Beispiel hinter der Kirche des Heiligen Prokop hinauf.
Dieser Ort hält leider nicht, was ich laut Karte vermutet hatte: Von den Felsen ist nicht viel zu sehen, da die einzige Felswand weit und breit unter mir liegt. Der Ausblick ist etwas wert, allerdings sind alle interessanten Punkte doch zu weit entfernt, um ihnen in dieser Winzigkeit etwas abgewinnen zu können. Die umzäunte Lichtung selbst hat nicht viel zu bieten.
Damit endet dieser Ausflug. Nicht weit entfernt liegt die Bushaltestelle Dobeška, so dass ich mir den Fußweg hinab spare.