Die Österreichische Nordwestbahn – eine Spurensuche in Prag
Begonnen hatte es im Prager Bahnhof Vysočany. In einem der Innenräume hatte ich auf einem Spaziergang Tafeln mit einer früheren, zweisprachigen Beschriftung entdeckt. „Oesterreichische Nordwestbahn“, steht dort geschrieben.
Später fand ich heraus, dass dieser Bahnhof ein Unterwegshalt zu der Endstation Těšnov war. „Těšnov“ ist jedem Prager ein Begriff, aber nicht jeder weiß, dass es sich einmal um einen Bahnhof gehandelt hatte. Vom diesem Bahnhof, der mehrmals seinen Namen gewechselt hatte, ist nur noch eine Straßenbahnhaltestelle geblieben, wie ein Echo aus der Vergangenheit. Der Bahnhof selbst musste der Prager Magistrale weichen, die das Zentrum in Nord-Süd-Richtung durchschneidet. Den Prager Hauptbahnhof und das Nationalmuseum hat sie nur knapp verfehlt.
Wieder an einem anderen Tag stieß ich auf die Reste einer Brücke über die Rokytka, und auch sie ist ein Hinweis auf die ehemalige Strecke, auf der man bis nach Wien, Tetschen (Děčín) oder Mähren reisen konnte. Ich beschloss, die Strecke einmal zu Fuß abzugehen, so weit es möglich ist.1
Diese Bahnlinie dürfte wohl den ersten Eindruck von Prag unzähliger Besucher geprägt haben. Wie mochten es die damaligen Reisenden erlebt haben, als sie nach stundenlanger Fahrt endlich Prag erreichten und neugierig durch die Fenster blickten? Was hatten sie gesehen?
Sehr geehrte Fahrgäste, wir erreichen nun Prag
Es ist ein sonniger Märztag, die Vegetation steckt noch im Winterschlaf. Eigentlich ist es nicht die richtige Jahreszeit für einen Spaziergang mit Kamera, aber für eine Spurensuche ist sie ideal, denn die Sträucher sind noch kahl.
Ich will dort anfangen, wo die Strecke heute noch funktioniert: am Bahnhof Vysočany. Von dort aus möchte ich in Richtung Endstation gehen.2
Zu dem Bahnhof komme ich zu Fuß von der Haltestelle Vysočanská, wo Trams und Metros halten. Der Bahnhof wird umgebaut, ein paar Arbeiter machen Pause und begaffen die Passanten.
In den Bahnhof gelangt man wie durch den Keller. Hinten sehe ich den Tunnel, der wie ein Bergwerk aussieht, aber ich nehme die Treppe hinauf.
Leider ist die Schalterhalle mit den zweisprachigen Tafeln verschlossen. Es wird gebaut. Zum Glück habe ich aber ein Foto der zweisprachigen Aufschriften von einem früheren Ausflug.
Vom Bahnhof aus kehre ich auf die Straße zurück und gehe unter der Strecke entlang und streife den Park Podviní. In der Straße Podvinný mlýn finde ich einen Weg, der in improvisierten Stufen den Hang hinauf führt. Sogar ein Seil ist als Handlauf gespannt.
Oben entdecke ich Schwellen auf dem stillgelegten Damm. Die Gegend ist vermüllt und die Anzahl der herumliegenden Spritzen lässt erahnen, wer hier im Sommer anzutreffen ist. Ich folge weiter den Schwellen durch immer dichteres Gestrüpp. Der Weg selbst ist nicht reizvoll, aber dann gelange ich doch zum Rest der Brücke, die einmal die Rokytka überquert hatte.
Ich gehe zurück und gelange auf befestigten Wegen zur gegenüberliegenden Seite der einstigen Brücke. Hier oben sitzt ein junges Pärchen, weitere Spaziergänger treffen später ein. Es scheint sich um einen beliebten Aussichtspunkt zu handeln.
Von hier aus führt der Bahndamm noch ein kurzes Stück weiter, dann bricht er auf einmal ab. Es folgen Straßen und die weite Fläche von Palmovka, einem wichtigen Knotenpunkt von Metro, Bussen und Straßenbahnen. Anhand der Häuser lässt sich ungefähr erahnen, dass die Bahnlinie einmal entlang der Straße Na Žertvách verlaufen sein musste.
Am westlichen Ende kreuzte sie eine Straße. Auch heute ist dort eine Kreuzung, allerdings orientiert sie sich nun an der Straße zur Brücke Libeňský most.
In dem folgenden Bild fuhren die ankommenden Züge von rechts nach links.
Und so sah es hier im Jahr 1971 aus.
Es existieren ebenfalls Luftaufnahmen:


Nächster Halt: Libeň, Unterer Bahnhof
Hinter der Haltestelle finden sich die nächsten Spuren: eine Verladerampe und das Gebäude des ehemaligen „unteren“ Bahnhofs von Libeň.3. Rund um das Gebäude hat die Öffentlichkeit keinen Zutritt und ich muss auf einem Trampelpfad weiter unten entlang gehen.
Hinter dem Gebäude von Kaufland ist der Bahndamm wieder gut zu erkennen. Er verläuft östlich der Vojenova-Straße. Oben finde ich eine hölzerne Schwelle.
Ein Stück weiter treffe ich auf die Straße Švábky. Vielleicht verliefen hier die Gleise auf einer Brücke, oder es wurde einfach die Straße durch den Damm gelegt, und die Wälle ließ man bestehen. Wer nichts von der Bahnlinie weiß, wird sich über die beiden Wände rechts und links der Straße wundern, deren Sinn heute nicht ganz klar wird.
Gegenüber existiert noch ein Stück Bahndamm, auf dem ich ein paar Reste der Bahnanlage finde. Dann ist auch der zu Ende.
Vor mir liegen zur Linken eine Reihe neuer Bürohäuser und zur Rechten eine weite Fläche. Auf alten Karten und Fotografien ist zu sehen, dass hier mal ein Moldauarm verlief, der dann am oberen Ende abgetrennt und schließlich zugeschüttet wurde. Von der Vergangenheit zeugen immer noch Namen wie Rohanský ostrov und Libeňský ostrov, denn „ostrov“ heißt Insel.
Die Bahnlinie führte also damals in einem Bogen am Ufer des Fluss- oder später Altarms entlang. Vermutlich konnte man durch die Fenster der Wagen bereits die Türme der Prager Burg erkennen. Jenseits der Moldau ragten die Schornsteine von Holešovice empor.
Die Gleise müssen entlang der heutigen Sokolovská-Straße verlaufen sein. Hinter den Parks ist wieder ein Stück Bahndamm mit Resten der Anlage zu sehen. Und auch der endet bald, nämlich vor dem ehemaligen Straßenbahndepot, in dem heute ein Mercedes-Händler sitzt.
Bei der Haltestelle Urxova befindet sich eine frühere Unterführung. Sie ist nur noch von der straßenabgelegenen Seite aus zu sehen.
Wie ging es weiter? Ein Haus am nördlichen Teil des früheren Depots verrät durch seine gedrehte Position, dass hier einmal die Strecke in einer weiten Kurve entlang führte, auf das heutige Ufer zu. Über den weiteren Verlauf kann ich nur noch mutmaßen. Hier stehen nun moderne Büro- und Wohnhäuser, die sich an der jetzigen Uferlinie orientieren.
An diesem Sonntag herrscht am Ufer Hochbetrieb. Am Boden liegen ein paar Betonschwellen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie etwas mit der damaligen Strecke zu tun haben.
Nächster Halt: Nádraží Karlín Přístaviště
Das nächste Gebäude ist vielleicht dasjenige Stück der alten Strecke, das am besten erhalten geblieben ist. Es handelt sich um den letzten Bahnhof vor unserer Ankunft.
Dem Namen nach befand sich dieser Bahnhof an einem Schiffsanleger und vielleicht wurden hier Güter umgeladen, für die man nicht in die Innenstadt fahren musste. Er wirkt ein wenig wie ein reiner Güterbahnhof und liegt nicht weit vor der Endstation, allerdings haben hier laut Fahrplan auch Personenzüge gehalten.
Dann erreiche ich das Negrelli-Viadukt. Der Bogen, unter dem jetzt der Fuß- und Radweg hindurch führt, war vor wenigen Jahren noch rauchgeschwärzt. Diese Strecke ist nämlich nie elektrifiziert worden. Da dieses Bauwerk aber kürzlich renoviert worden ist, ist davon nichts mehr zu sehen.
Nächster Halt: Praha Těšnov, oder wie er gerade hieß. Endstation
Dann unterquere ich die Magistrale. Hier wäre der Zug nun nach links eingeschwenkt, um in den Bahnhof einzufahren. Es handelte sich um einen Kopfbahnhof mit dem Hauptgebäude auf der rechten Seite des eingefahrenen Zuges. Willkommen in Prag!
Natürlich steht er nicht mehr, denn er wurde stillgelegt und am 16. März 1985 gesprengt.
Blick in Richtung des früheren Bahnhofs Landwirtschaftsministerium; nicht zu verwechseln mit Agrofert Hier links (etwas schräg) wäre wohl das Bahngebäude gewesen, wenn ich von der Straße käme „Endstation! Bitte aussteigen, die Herrschaften!“ Blick vom Ende in Richtung Gleise Die Nummer 14 verbindet heute noch Těšnov und Vysočany, allerdings auf einer anderen Route Rechts im Bild wäre der Bahnhof, mit der Stirnseite zu den bunten Gebäuden hinten links
Wie hatte der Prag Nordwestbahnhof, oder Denisbahnhof, oder Moldaubahnhof, oder zuletzt dann Bahnhof Těšnov damals ausgesehen? Zum Glück gibt es Bilder aus allen Epochen, die auch etwas von der Atmosphäre verraten.
Das Prager Stadtmuseum hat eine sehenswerte Seite mit Fotos, auf denen auch der Innenraum und schließlich der Abriss gezeigt werden. Und hier ist ein Bild von 1971.
Es ist schade, dass dieser „Reisepalast“ einer Schnellstraße weichen musste. Das wäre ein ideales Ausflugsziel für Tage, an denen mich Reisefieber befällt.
Der Streckenverlauf, auf alten und auf neuen Karten
Auf alten Stadtplänen ist gut zu sehen, dass die Schienen den Bahnhof vom Fluss aus erreichten. Dafür mussten sie sogar eine Insel nutzen, denn gleich neben dem Bahnhof begann damals das Wasser.



Schließlich habe ich versucht, den früheren Streckenverlauf auf einer heutigen Karte einzuzeichnen.4

1: Bahnhof Vysočany, 2: ehemalige Brücke über die Rokytka, 3: Unterer Bahnhof Libeň, 4: Bahnwärterhäuschen, 5: Unterführung, 6: Endbahnhof Těšnov
Hinweis für (Be)Sucher: Viele der genannten Details sind leider nur schwer zugänglich. Personen mit eingeschränkter Mobilität können (nach dem Umbau) den Bahnhof Vysočany besuchen, des weiteren sind das Brückenfragment an der Rokytka, der Bahnhof Karlín Přístaviště und die Straßenbahnhaltestelle Těšnov gut erreichbar.