Die längste Platte Tschechiens
Inzwischen dürfen wir in Tschechien schon mit nacktem Gesicht durch die Gegend laufen, insofern wir einen Mindestabstand einhalten. Aber das gilt nur im Freien. Für weitere Reisen mit vorgeschalteter Atembremse fehlt mir der Nerv, daher bin ich zunächst nur in Prag unterwegs. Denn auch hier gibt es so ein paar Kuriositäten zu bewundern.
Diesmal habe ich die „längste Platte Tschechiens“ besucht. Damit meine ich natürlich keine LP mit Überlänge, sondern einen Plattenbau. Er befindet sich in der Sídliště (also Siedlung) Bohnice, direkt bei dem berühmten psychiatrischen Krankenhaus und nicht weit von dem geheimnisvollen Friedhof entfernt, also oberhalb des Zoos.
Dieses Haus in der Zelenohorská-Straße ist der längste Plattenbau Tschechiens, gemessen ohne Knicke und Faltungen. Mit einer Länge von rund 330 Metern verblasst er zwar als umständliches Wohnhaus gegen den Wiener Karl-Marx-Hof, aber sehenswert ist er auch so. In 400 Wohnungen leben rund 1000 Personen, also die Bevölkerung eines Dorfes, und zwar gestapelt.

Das ganze Bauwerk ist einigermaßen hoch, lang und schmal. Es ist so schmal, dass man durch die Glastüren die andere Straßenseite sehen kann. Aber trotzdem wirkt es auf mich eher massiv als dünn.
Bei Plattenbauten habe ich manchmal die Sorge, sie könnten wie Kartenhäuser in ihre Plattenbestandteile zusammenfallen oder wie Selbstbauregale eine bedrohliche Schräglage annehmen, wenn man nämlich wieder zu faul gewesen ist, das Metallkreuz an die Rückseite zu schrauben. Aber genug zu den Katastrophenszenarien, denn glücklicherweise stehen diese Dinger trotz Sturm und Wetter und vierhundert Wohnzimmerschrankwänden erstaunlich stabil.
Ein Stück weiter finde ich eine weitere Langplatte, die mir rein optisch sogar noch länger als die berühmte längste der Republik vorkommt, die aber in der Tat um ein paar Meter kürzer ist. Kein Wunder also, dass hier auf kräftige Farben verzichtet wurde. Für die 324 Meter holt man doch keinen Pinsel aus der Tasche!
Ich gehe die breite Straße entlang, auf der allerdings wenig Verkehr ist. Alle Einheimischen überqueren die Straße ein paar Meter neben dem Zebrastreifen. In das so ein Stück kollektiver Individualismus, den man sich hier zwangsläufig angewöhnt?

Von dort aus ums Eck gelangt man in die Hlivická. Aber eigentlich sollte man von der Rückseite her kommen, wo sich der Haupteingang befindet.
Während ich mich noch nähere, fällt mir auf, dass hier ein steter Strom von Menschen unterwegs ist. Kein Wunder, denn auch in diesem Haus lebt ein kleines Dorf. Im Gegensatz zu dem längsten Bau mit seinen 18 Eingängen hat dieser jedoch nur 4 zu bieten. Und einer von ihnen ist der Haupteingang mit der unvermeidlichen Pforte, Wänden voller Briefkästen und einer imposanten Klingelplatte.
Die Tür, die nie zufällt, weil immer wieder jemand hindurch geht. Nach Abschluss der Verkabelung dürfte der Elektriker ein paar Häuser weiter in die geschlossene Abteilung eingeliefert worden sein. Wer nachgezählt hat, hat gemerkt, dass noch ein paar Klingeln fehlten. Die sind nämlich auf der anderen Seite zu finden.
Klingelstreiche verbieten sich hier allein schon aus Zeitgründen: Bis man bei den letzten der 439 Klingeln angelangt ist, sind sicher schon die ersten fünfzig bis hundert Bewohner herunter gekommen. Und unter denen sind immer auch ein paar Tschechen, die gerade heute verdammt schlechte Laune haben.
Das war es bereits. Die Psychiatrie werde ich mir für diesmal ersparen, an der führt ohnehin kein Weg vorbei. Da bleibt mir nur noch im Einkaufszentrum (eine andere Bezeichnung fällt mir nicht ein, obwohl es auch eine zerfallene Parkgarage oder eine Tropfsteinhöhle hätte sein können) Odra auf den Bus zu warten.