Der Charme alter Industriegebäude in Pilsen
Kaum etwas schlägt mich so zuverlässig in seinen Bann wie renovierte Industriegelände, in denen noch Reste alter Gleise zwischen dem Kopfsteinpflaster verlaufen, wo man schwere Metalltüren aufdrücken muss, wo dicke Kabelstränge von massiven Schaltern an der Decke entlang laufen. Die Empfindung der morbiden Vergangenheit alter Produktionsstätten mischt sich mit dem Kribbeln eines Neuanfangs, wo Ideen geboren werden und Dinge in Bewegung geraten.
Die Reaktivierung stillgelegter Industriegebäude gehört längst zum Standardrepertoir moderner Stadtplanung: Hier finden sich nun Kunst- und Kulturzentren, Cafés und Restaurants, Coworking-Spaces und Inkubatoren für neue Firmen, Jugendeinrichtungen und offene Technologiebastelwerkstätten. Diese Gebäude sind Räume für viel gestalterische Freiheit. Bewährt hat sich offenbar ein Mix aus moderner Gastronomie, Kultur und Community-Projekten, die eine allgemeine aktivierende Funktion auf die ganze Stadt ausüben können.
Diese Hallen haben aber nicht nur einen immensen ästhetischen Reiz: Zumeist bestehen sie aus Ziegelsteinen mit Stahlelementen und verfügen über großzügige Räume und weite Fensterflächen. Zudem sind sie längst in das innere Stadtgebiet hineingewachsen, liegen zwar nicht im historischen Zentrum, aber doch sehr zentral. Brachflächen werden so nutzbar gemacht.
Unter diesen Orten habe ich zwei in Pilsen (Plzeň) besucht, die nur ein paar Gehminuten vom Zentrum entfernt liegen, und dabei dicht beieinander – getrennt nur von einem der vier Pilsener Flüsse.
Pilsen ist in Tschechien der Inbegriff einer Industriestadt. Daneben rangieren zwar auch noch Ostrava mit ihrer Bergbautradition, Pardubice, als Chemie-Standort, und vielleicht noch ein paar andere, aber Pilsen ist eben doch die Stadt des weltberühmten Bieres und der Schwermaschinen, namentlich des Škoda-Werkes.1
Pilsen ist in diesem Jahr zudem eine Europäische Kulturhauptstadt. Die besondere Herausforderung bestand nun darin, sich das „Urquell-Image“ der Stadt zwar zunutze zu machen, aber dennoch um eine weitere, wichtige Facette zu erweitern. Bemerkenswert ist für mich dabei, dass sich auch die Wahrnehmung der Bürger von ihrer eigenen Stadt in dieser Zeit verändert hat.
Das Depo 2015
Eine der bleibenden Investitionen dieses Jahres bildet das Depo 2015. Es handelt sich hierbei um die ehemalige Werkstatt der Pilsener Verkehrsbetriebe, in der sich nun Ausstellungshallen, ein Café und die Räume verschiedener Initiativen befinden, unter ihnen der Makerspace (eine offene Kreativwerkstatt mit technischer Ausrichtung), ein Zentrum für junge Firmen in kreativen Berufen und ein Gemeinschaftsgarten.
Gleich bei meiner Ankunft nach einem kurzen Spaziergang den Fluss, der „Radbuza“, entlang und unter einer Reihe von Brücken hindurch, wird mir klar, dass das Depo vor allem jüngere Leute anzieht: Zwischen den riesigen Stahlröhren von Suška spielt eine Gruppe französischer Teenager Fußball. Von den beiden Hallen scheint nur eine geöffnet zu sein.
Neben einer Fotoausstellung mit dokumentarischem Charakter, zu der die Bürger Pilsens tausende von privaten Bildern geschickt hatten, fällt hier vor allem ein Gewächshaus ins Auge, DOMUS genannt, das man über zwei Stege betritt.
- DOMUS: Gewächshaus im Depo 2015
- Der Platz für die „Meister“
- Blick von der Kabine des Werksmeisters
- Kabine des Werksmeisters
Im DOMUS befinden sich verschiedene Kunst- oder Designobjekte. Als eine der Kostproben präsentiere ich hier die Installation „Trapped Flies“ (unfreiwillig musizierende Fliegen) von Mischer Traxler:
Eine Auswahl weiterer Objekte:
- Biologischer 3-D-Drucker von Zuzana Gombošová
- Die Geschichte Pilsens reduziert auf eine Leuchtreklame, von Maxim Velčovský
- Das Herz als Druckbehälter? Čestmír Suška
- Čestmír Suška: RESTART
Erst auf dem Weg hinaus widme ich mich den Skulpturen von Čestmír Suška auf dem Hof. Wie banal, hatte ich zunächst gedacht, muss ich zugeben. Da hat wieder einmal jemand Schrott zusammengeschweißt. Eine gigantische, leicht verformte Blechdose, passend für das Pils des 21. Jahrhunderts, wurde jedoch zunehmend zum Rätsel: Ein stehendes U-Boot? Ein riesenhafter Bandwurm? Die Skulptur besaß ein Türchen, und im Innern eine Wendeltreppe.
Während ich hinauf stieg, begann meine Meinung umzukippen. Es handelte sich bei dem 15 Meter hohen Rohr nicht einfach um einen Aussichtsturm, damit man die Umgebung einmal von oben sehen kann. Der besondere Eindruck entstand durch das Gewirr rostbrauner Stangen, Stufen und Verstrebungen, und dann vor allem mit den symmetrisch ausgesägten Rosetten in den Wänden. Diese Skulptur muss man von innen erleben, um ihre Wirkung verstehen zu können. Zu der Erfahrung trägt noch bei, dass sich oben die Wendeltreppe um ein Stück verengt, während man sich fragt, ob dieses Monstrum wohl kippsicher im Boden verankert ist.
Wieder draußen angekommen, und um eine Erfahrung reicher, hatte sich auch meine Meinung von den Skulpturen völlig verändert. Das waren jetzt keine herumliegenden geometrischen Körper mehr. Vielleicht könnte man sie sogar als Erfahrungsräume bezeichnen. Es ist eine fragile Erfahrung des Vertrauens in tonnenschweres, rostfarbenes Metall und von Gittern und Kontrasten in einer engen, abgeschlossenen Umgebung, in die hinein und aus der heraus nur eine einzige kleine Tür führt, eine Erfahrung der Abgeschlossenheit, der Höhe, aber auch einer filigranen, rostigen Schönheit.
- Čestmír Suška: RESTART
- Čestmír Suška: RESTART
- Čestmír Suška: RESTART
- Čestmír Suška: RESTART
- Čestmír Suška: RESTART
- Ach ja – gerade wenn ich ganz oben bin, gibt es unten ein neues Menü.
Die Papierfabrik
Ein Stück die Radbuza flussaufwärts und über eine Fußgängerbrücke, und man ist bei der Papírna, der ehemaligen Papierfabrik. Hier wird gerade geschäftig gebaut, und die Bauarbeiter sitzen zuweilen als bunte Flecken im Café, wo sie andächtig der Bedienung zusehen.
Ins Leben gerufen wurde dieses Projekt von dem Designstudio Petrohrad und dem Verein Pilsen Live. Das Gebäude beherbergt nun neben dem Café einen Tanzsaal (100 qm), ein Fotoatelier (200 qm) und Übungsräume für Bands, zudem können dort Konzerte, Theateraufführungen und Ausstellungen (auf 800 qm) stattfinden.
Womit ich am wenigsten gerechnet hatte, ist die ungewöhnliche Nutzung des Untergeschosses: Dort befindet sich nämlich eine Gokart-Bahn. Auf 3000 qm fahren hier, unter dem Kulturzentrum, tatsächlich Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Die Lösung des Problems von Abgasen und Motorenlärm habe ich nicht erfahren können, da die Bahn momentan nicht in Betrieb war. Auf dem Weg ins Café geht man ein paar Meter an der Rennbahn entlang. Eine seltsame Kombination, aber vielleicht nur von experimenteller Natur.2
Dieses Thema findet auch Erwähnung in meinem Buch „111 Gründe, Tschechien zu lieben“.
Erhältlich ist es im Buchhandel.