Der alte Friedhof in Liboc

Im Prager Westen unterhalb des Wildparks um das Schlösschen Hvězda („Stern“) befindet sich ein kleines, unscheinbares Grundstück, das von der Straße aus kaum zu finden ist. Dies ist der ehemalige Friedhof von Liboc. Heute befindet sich hier ein Park. Er ist frei zugänglich, hat allerdings kaum etwas zu bieten, was einen Besuch rechtfertigen würde.

alter Friedhof in Prag-LibocDie einzige Ausnahme bildet ein großer Ahorn, in dessen Stamm ein Kreuz eingewachsen ist. Dieses Kreuz stellt nun, abgesehen von einem steinernen Sockel, den einzigen Hinweis auf den früheren Friedhof dar.

Der Baum mit dem Kreuz hat unter Fotografen eine gewisse Berühmtheit erlangt, weil er wirklich spektakulär aussieht.

Man kann hier nicht unbedingt von einer liebevollen Umarmung durch die Natur sprechen. Vielmehr hat das Bild etwas Brutales: Gierig verschlingt der Baum das Kreuz und zerbricht dabei sogar das Schild, den einzigen Verweis auf die Identität des Verstorbenen.

Es ist eine Demonstration der Stärke, der rohen Gewalt.

Ich muss dabei an Shakespeares Sturm (The Tempest) denken, wo der Luftgeist Ariel von der Hexe Sycorax zur Strafe in eine Fichte eingeklemmt wurde, bis er nach zwölf Jahren von Prospero befreit wurde:

it was mine art,
When I arrived and heard thee, that made gape
The pine and let thee out.

 

alter Friedhof in Prag-Liboc

Natürlich möchte man nun auch nicht mit der Motorsäge an den Baum herangehen. Der Friedhof wurde aufgelassen, und hier hat nun die Natur das Hausrecht. Das Eisen wird zerfallen, dem Baum werden neue folgen. Wir Menschen brauchen Orte der Erinnerung und des Abschiednehmens, und Abschiednehmen heißt auch Gehenlassen.

Der Übergang vom Friedhof zum Park erscheint mir konsequent und zugleich respektvoll gegenüber den Verstorbenen und Hinterbliebenen, die selbst schon wieder von uns gegangen sind.

 

Christoph Amthor

Erster länger Aufenthalt in Tschechien im Jahr 1997. Seit 2003 wohnhaft zumeist in Prag, mit Abstecher in die Slowakei. Ehemals Journalist und Mitbegründer einer gemeinnützigen Organisation, heute Blogger und Software-Entwickler.

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Von einer atemberaubenden Landschaft, über Bier und Knödel bis hin zu Kafka, dem Golem und einem Geist, der eine wissenschaftliche Karriere gemacht hat. Vom Fliegenden Ferdinand  und Pan Tau bis zur Lässigkeit, mit der dort ein Fabrikschornstein gefällt wird.

 

Über dieses Land, das einfach liebenswert, aber oft auch geheimnisvoll und extrem verrückt ist, gibt es wirklich genug zu erzählen. Und natürlich kann man darüber nur mit einer guten Portion böhmischen Humors schreiben.